Mittwoch, 11. Januar 2017

Das letzte "schlechte" Jahr - Elektromobilität 2016

Große Trends und kleine Veränderungen

von Raimund Nowak
Hoffnung ist etwas für Menschen, die schlecht informiert sind. Viele Kommentatoren wandern bei der Elektromobilität auf zwei sehr unterschiedlichen Wegen. Die einen sehen bei ihren Wanderungen durch die alternative Antriebswelt nur Stillstand und verbreiten gebetsmühlenartig die Unverzichtbarkeitserklärung von Diesel- und Benzinautos. Die anderen surfen durch die wunderbare (Tesla-) Welt, verdammen die etablierten Autobauer als Schlafmützen und feiern jede Veröffentlichung eines elektrischen Conceptcars als Wahrzeichen bevorstehenden neuen Mobilitätszeitalters. Die zweite Gruppe steht auf der richtigen Seite der Geschichte, wirkt sympathischer, ist aber auch nur bedingt im Recht.
Die Gruppe der Skeptiker findet ihre Hauptnahrungsquelle in den Zulassungszahlen für Elektroautos.  Gäbe es nicht Norwegen, dann hätten sie sogar ein unschlagbares Argument  für deren Unverkäuflichkeit. Die E-Autozahl des Jahres 2016 kommt aus dem Land der Fjorde und lautet 100.000. So viele Elektroautos sind dort mittlerweile zugelassen. Auf deutsche Verhältnisse übertragen hieße dies rund 1,6 Millionen verkaufte Elektroautos. Zwischen Flensburg und Zugspitze rollen jedoch wohl nur rund 70.000 Elektroautos. Woran liegt es?
Einerseits lesen wir überall die Klage über schlechte Verkaufszahlen, andererseits hören wir von langen Lieferzeiten, fehlenden Vorführwagen und verzögerter Markteinführung neuer Modelle. Im Jahr 2016 hat sich der deutsche Elektromobilitäts-Markt im Rahmen der Möglichkeiten entwickelt. Trotz der im Frühjahr 2016 eingeführten Kaufpreisprämie sind nicht mehr Elektroautos verkauft worden als in 2015. Das was an Fahrzeugen verfügbar war wurde,  – bis auf wenige Ausnahmen – verkauft. Nirgendwo auf der Welt stehen finden wir große Lagerplätze mit unverkauften E-Autos. Bei „Verbrennern“ ist dies anders!
Es klingt komisch, aber es stimmt. Das Angebot an Elektroautos war 2016 knapper als im Vorjahr und in attraktiven Preislagen gab es so gut wie kein Angebot. Das einzige vollelektrische Fahrzeug, das in diesem Jahr bei den Verkaufszahlen richtig zugelegt hat, ist der Renault ZOE, der in Deutschland rund 2.700-mal (2015: 1.800) als Neuwagen aus einem Autohaus rollte. Zusammen mit dem BMW i3 führt der elektrische Franzose das überschaubare Feld der Elektroautos in Deutschland an. Ohnehin muss bedacht werden, dass nur rund ein Viertel der Neuzulassungen von Privatkunden vorgenommen wird. Das große Zahlenrad drehen die Hersteller selbst sowie die großen Flottenbetreiber. Die rund eine Million Menschen, die sich Deutschland ein neues Auto kaufen, gehören eher zur älteren Generation. Daimler-Käufer beispielsweise sollen im Schnitt knapp unter 60 Jahre alt sein. Die Mehrheit der Neuwagenkunden kommt aus der Tradition des konventionelles Autos, das jederzeit sehr weit fahren könnte, aber tatsächlich selten auf mehr als 50 km Tagesfahrleistung kommt. Sie kommen aus einer Zeit als Autos viel über den Status des Besitzers aussagten und Bus- und Bahnfahrer als Verlierer galten. Das Leihen oder Teilen eines Autos waren Ideen aus einer fremden Welt. Ergebnis dieser Haltung sind überdimensionierte Autos, die die meiste Zeit ihres Lebens  rumstehen. Um mit Nobelpreisträger Bob Dylan zu sprechen: „The times, they are changing.“
Frauen übrigens stehen den Elektro-Antrieben bisher deutlich skeptischer gegenüber als Männer. Elektro-Autofahrer leben eher im ländlichen und suburbanen Raum und sind nicht so vermögend wie es gern kolportiert wird. Wenn es nicht gerade ein TESLA sein muss, ist ein Elektroauto für Normalverdienende durchaus leistbar. Aber im Klein- und Mittelklassesegment hat bisher keines der Elektro-Modelle hohe Noten in Bezug auf ihr Styling erhalten oder sich gar zu einem Kultobjekt entwickelt. Hätte Volkswagen den Bulli, BMW den Mini oder Renault einen R4 als Elektroauto in Serie gebracht, sähe es – auch mit Blick auf die Altersklasse der Neuwagenkäufer – sicherlich anders aus. Sollte Apple tatsächlich das iCar auf den Markt bringen, dürfte im Kultbereich ein neues Rennen beginnen.
Viele halten mittlerweile das Ziel, in Deutschland im Jahr 2020 eine Million E-Fahrzeuge auf die Straße zu bekommen, für unerreichbar. Hier sollte man nicht zu früh aufgeben. Allerdings hieße dies, dass ab 2018 jedes 10. verkaufte Auto die Kriterien des E-Kennzeichens erfüllen müsste. Im nächsten Jahr haben wir eine deutliche Erweiterung der Angebotspalette. Nach einem Facelift ist der Volkswagen e-up wieder verfügbar und die neue Generation des e-Golf wird in den Markt eingeführt, Daimler bringt den neuen Smart nun auch als Electric Drive-Version, Opel den neuen Ampera-e, Nissan den neuen LEAF, Hyundai den IONIQ Elektro, TESLA das Model X (nicht das vielfach vorbestellte Model 3!). Das breitere Angebot und die damit einhergehende Verfügbarkeit werden für höhere Zulassungszahlen sorgen. Aber Vorsicht vor allzu großer Hoffnung: Autoproduktion ist kein Brötchenverkauf! Auf verändertes Kundenverhalten kann nicht sofort reagiert werden. Die Zulassungszahlen werden nicht von jetzt auf gleich explodieren. So könnte im vollelektrischen Segment in Deutschland wohl maximal eine Verdreifachung erfolgen. Bei den Plug-In-Hybriden wird eine Prognose schwierig. Für Überraschungen könnte der eine oder andere Nischenanbieter sorgen. Allerdings sind es ja nicht nur die Konzerne, die mit großen Ankündigen auf sich aufmerksam machen. Auch kleinere Firmen und insbesondere StartUps zeigen Prototypen, die vermutlich nie Marktreife erreichen werden.
Modelltechnisch wird 2017 vor allem das Jahr der „Bekämpfung der Reichweitenangst“. Bei Mittelklassewagen muss mit einem durchschnittlichen Stromverbrauch im Realbetrieb von etwa 15 kWh rechnen. Autos mit Batterien, die über eine Speicherkapazität von mehr als 30 kW verfügen, schaffen dann wirklich mindestens 200 km. Eine Strecke, die zwar seltener gefahren wird, aber wohl doch für viele Menschen gewünschter Mindeststandard ist. Wer so viel Mindestreichweite haben möchte, kann sie dann bei allen Herstellern kaufen. Reichweitenkönig der Mittelklasse wird der Opel Ampera-e mit einem 60 kW-Lithium-Ionen-Speicher sein. Das wären dann 400 Kilometer mit einer Batterieladung. Ob viel Batterie dann auch viele Kunden bringt ist noch offen. Richtig spannend wird es, wenn die Gegenbewegung zur Reichweitenverlängerung auf dem Markt ankommt. Ein Fahrzeug mit kleiner Batterie (um die 10 kW) und Strecken angepasstem Fahrkomfort kann man sicher unter 10.000 Euro anbieten.
Wer aber will kleine, billige E-Fahrzeuge bauen? Unter derzeitigen Bedingungen ist für die hiesige Industrie wenig Wertschöpfung drin. Mit dem derzeitigen Kundenverhalten können die Hersteller gut, viele sogar sehr gut, leben. Was sollen, die Firmen machen, die auf den Bau von Getriebe oder Einspritzpumpe spezialisiert sind? Die bisherige Elektromobilitätsstrategie verfolgte in erster Linie das Ziel den Flottenverbrauch der großen Hersteller zu senken und somit den Bau von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren zumindest mittelfristig zu sichern. Vielerorts wird immer noch an der Optimierung der Verbrennungsmotoren gearbeitet und bedeutende Akteure sehen in der Entwicklung neuer (synthetischer) Kraftstoffe eine langfristige Zukunft für den Verbrennungsmotor.
Wer schützt besser die Arbeitsplätze: Wer den Umstieg auf E-Mobilität hinauszögert oder E-Treiber?
Letztere verweisen gern auf das Nokia-Schicksal, die anderen argumentieren mit Erfahrungen im Energiesektor. Dort ist es ja auch gelungen und es gelingt weiter, wenig zukunftsfähigen Technologien Bestandsgarantieren zu geben. Mit postfaktischer Argumentation wird dies als eine ökonomisch sinnvolle Strategie verkauft.
Staatliche Investitionen in Zukunftstechnologien werden oft als Geldverschwendung gegeißelt. Gern von den Profiteuren altbewährter Subventionswege. Ein bis zwei Milliarden Euro wären wohl notwendig, um deutschlandweit eine gute Ladeinfrastruktur aufzubauen. Mit kleinen Korrekturen bei der Dienstwagen- und der Dieselbesteuerung hätte man das Geld schnell zusammen.
Natürlich ist die Verkehrswende nicht umsonst zu haben. Investitionen in neue Fahrzeuge, insbesondere vollelektrische Busse, neue Wegeführungen für Fahrräder, Platz für Leihfahrzeuge, IT-Leitsysteme, Mobilitätszentren etc. müssen schließlich finanziert werden. Viel spricht dafür, dass das Unterlassen dieser Vorhaben ökonomisch viel riskanter ist, als sie zu tätigen. Ohnehin wird in Deutschland zu wenig investiert. Warum nicht in neue Verkehrs- und Energietechnik?
Was waren die großen elektromobilen Weichenstellungen 2016? Die beiden größten Automobilkonzerne haben sich neu ausgerichtet. Toyota glaubt plötzlich weniger an Wasserstoffautos und wird wohl bald auch batterieelektrische Fahrzeuge anbieten. Volkswagen hat fertigungspolitisch eine enorme Richtungskorrektur verkündet und will Elektroautos künftig (ab 2020?) auf einer eigenständigen Plattform bauen. Mit Moia wurde 2016 eine neue Konzernmarke, die sich mit Mobilitätsdienstleistungen beschäftigt und als Zeichen einer neuen Weltstrategie in London vorgestellt wurde, geschaffen.
Die relevanteste „elektromobile“ Weichenstellung war 2016 sicher die Verkündung der chinesischen Regierung von E-Autoquoten. Natürlich sind im Riesenreich der Mitte ausgeprägte industriepolitische  hinter dieser Entscheidung ausmachen. Letztlich ist jedoch die Bekämpfung der Luftverschmutzung in den Mega-Cities alternativlos. Auch im Jahr eins nach der Unterzeichnung des UN-Klimaabkommens ist nicht der Kampf gegen die Erderwärmung, sondern gegen die unzumutbare Schadstoffbelastung der Atemluft die Haupttriebfeder der E-Mobilität. 300 Millionen Kinder leben weltweit in Regionen mit stark gesundheitsgefährdender Luftqualität. Auch hartherzige Regierungen, die sich nur wenig vor Wählerabstrafungen fürchten müssen, können sich dies nicht unbegrenzt anschauen.
Circulation alternée hieß es einige Tage in Paris und Lyon. Mit der (angestrebten) Halbierung des Autoverkehrs sollte in den französischen Metropolen die Luftverschmutzung reduziert werden. Auch Fahrverbote sind also offensichtlich ein europäisches Thema. In mehreren europäischen Großstädten wächst die Bereitschaft, Fahrzeuge mit hohem Schadstoffausstoß vom Verkehr auszuschließen. So will Paris seine 4.000 Dieselbusse bis 2024 gegen E-Liner austauschen. Noch viel offenkundiger als im PKW-Bereich können wir bei Bussen und Lieferfahrzeugen die mangelnde Verfügbarkeit von Elektrofahrzeugen beklagen.
Gegenüber einem Dieselbus verbraucht ein Elektro-Bus nur ein Viertel der Energiemenge und seine lokale Emissionsfreiheit ist an Stadtfreundlichkeit kaum zu überbieten. Für 2018 haben auch die großen Bushersteller elektrische Modelle angekündigt. Bisher sind in Europa nur kleinere Unternehmen unterwegs. Wenn chinesische Großkonzerne wie BYD in Europa ernsthaft aktiv werden, könnte es spannend werden.
Die große Überraschung im elektrischen Transporter-Segment war der Streetscooter, den die Deutsche Post in einem ihrer Unternehmen für den Eigenbedarf produzieren lässt. Der Onlinehandel und die vielen Lieferserviceangebote haben die Elektrifizierung der urbanen Logistik zu einem Topthema gemacht. Elektrische Lastenräder werden schon in diesem Jahr viel häufiger im Stadtbild zu sehen sein und sind zweifelsfrei ein weltmarktfähiges Produkt.
Eine Debatte des vergangenen Jahres war das Verbot  der Zulassung von Verbrennungsmotoren ab dem Jahr 2030. Wir wissen, wie wenig bisher zeitliche Ferne Zielsetzungen bewirkt haben. Was fehlt, ist die Verständigung auf zeitnah umsetzbare Maßnahmen zur Förderung der Elektromobilität. Hier hapert es, weil zwei unrealistische Hoffnungen gepflegt werden. Die eine Gruppe kämpft für viele weitere Jahre ungestörten Betriebes von Verbrennern. Am anderen Ende der Hoffnungsskala bewegen sich die, die eine Zukunft ohne Auto sehen. Die einen träumen von synthetischen Kraftstoffen, die anderen von der Fahrradstadt. Gemeinsam blockieren sie die notwendige Dynamik bei Entwicklung, Bau und Einsatz von Elektrofahrzeugen. Diese Situation lösen wir nicht über ferne Zieldebatten, sondern durch Entscheidungen im hier und jetzt.
Deutschland ist sicher eines der am wenigsten geeigneten Länder für eine autofreie Mobilitätswelt. Die wirtschaftliche Stärke der Automobilindustrie und die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Autofahrens lassen dem Verfolgen einer derartigen Strategie nicht den ausreichenden Raum. Zudem sind die negativen Auswirkungen des Autoverkehrs in Deutschland beherrschbarer als anderswo. So bleibt für Deutschland der Rolle des Vorreiters eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems inklusive Autos. Andere Länder können ja andere Strategien verfolgen. Elektromobilität verändert die Verkehrs- und die Energiewelt. Es ist ein harter Kampf von Branchen, die die Industriewelt der letzten Jahrzehnte bestimmten. Da sollte man den Menschen nicht einreden ein paar Fahrevents und Netzwerksveranstaltungen würden es schon richten. Ein paar mutige Entscheidungen und Konsequenz beim eigenen Mobilitätsverhalten wird man der Politik doch abverlangen können.
Abschließend dann doch noch etwas Hoffnungsvolles. Im letzten Jahr wurden in Deutschland etwa 15.000 privatbetriebene Solarspeicher installiert. Elektrofahrzeuge und die Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energie, hier wächst etwas zusammen, was zusammen gehört. Gemeinsam sollten die Länder der Europäischen Union die Elektromobilität angehen. 2017 feiern (?) wir den 60. Geburtstag der Gründung der europäischen Atomgemeinschaft. Bevor der Europäischen Union die Inhalte für die Zusammenarbeit ausgehen, wie wäre es mit einer Europäischen E-Mobilitätsgemeinschaft. Der Bau einer großen (!) europäischen Batteriefabrik gehört zwingend dazu.
Mit Jahresbeginn die Batteriefabrik von TESLA/Panasonic in Nevada ihren Betrieb aufgenommen. Die volle Produktionskapazität soll dann 2020 erreicht sein. Wird Präsident Trump zur Eröffnung kommen? Die erdölaffine Trump-Administration wird wissen, dass die Wirtschaftlichkeit von E-Fahrzeugen stark vom Batteriepreis abhängt. Zwischen 2010 und 2016 sind diese um 80 (!) Prozent gefallen. Das Rennen kommt in die Zielgerade: Wann wird die Batterie in einem Elektroauto billiger sein, als die Teile in einem Verbrenner, die in einem Elektroauto fehlen. Im Batteriesegment können wir noch erhebliche Technologiesprünge und Preisreduzierungen erwarten. Beim Verbrennungsmotor wohl eher nicht. Ich bin sicher, 2016 war das letzte „schlechte“ Jahr der Elektromobilität.